Neutralität – Sein oder Nichtsein?

Nach wie vor aktuell der folgende Artikel. Gerade derzeit, wo die österreichische Regierung laviert, um österreichische Soldaten nach Libyen entsenden zu können, die aber wegen der Neutralität dann nur an humanitären Maßnahmen teilnehmen sollen.
Österreicher in einem Kriegsgebiet, in dem Parteien einander bekriegen, die beide nicht stubenrein und weit entfernt von demokratisch sind – das braucht niemand. Am wenigsten unter dem Deckmantel der Neutralität.

Von manchen kleinerformatigen Medien und dauerwahlwerbenden Politikern wird bei jeder passenden oder meist unpassenden Gelegenheit ins Spiel gebracht, man müsse doch die Neutralität Österreichs schützen und bewahren, man dürfe nicht auf sie verzichten. Wohlweislich unbeantwortet bleibt dann die Frage im Raum stehen, welche Neutralität? Diese Frage ließe sich bei einiger Ernsthaftigkeit einfach beantworten:

Österreich ist nicht (mehr) neutral.

Einige Erklärungen dazu, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Der Begriff des Neutralen ist im Haager Abkommen vom 10. Oktober 1907 umschrieben, in Österreich in Kraft getreten am 26. Jänner 1910. Insbesondere steht dort, ein Neutraler kann sich auf seine Neutralität nicht berufen, wenn er feindliche Handlungen gegen einen Kriegführenden begeht, oder wenn er Handlungen zugunsten eines Kriegführenden begeht. Die Zulassung anderer Handlungen gegenüber Kriegsparteien ist ebenfalls genau geregelt.
Am 26. Oktober 1955 erklärte Österreich seine Neutralität. Der Text des Bundesgesetzes war eindeutig:
Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen. Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.
Diese völkerrechtlich verbindliche Erklärung hielt nicht einmal zwei Monate. Schon am 14. Dezember 1955 trat Österreich den Vereinten Nationen bei; unterwarf sich damit der UN-Charta, der als internationales Recht Vorrang vor nationalem Recht zukommt. Die Beistandspflicht zu wirtschaftlichen und anderen nicht militärischen Handlungen gegen eine Partei, wie sie Artikel 41 der UN-Charta festlegt, sind eindeutig unvereinbar mit der Rolle eines Neutralen im Sinne des Haager Abkommens. Artikel 42 der UN-Charta schließt unmißverständlich „Einsätze der Luft-, See- oder Landstreitkräfte von Mitgliedern der Vereinten Nationen“ mit ein, also militärisches Handeln.
Mit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen entsprach die österreichische Neutralität damit nicht mehr dem Völkerrecht, da der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – eine übergeordnete Instanz – über militärische Einsätze seiner Mitglieder entscheiden konnte. Die Verpflichtung des Artikels 43, Streitkräfte zur Verfügung zu stellen, Beistand zu leisten und Erleichterungen einschließlich des Durchmarschrechts zu gewähren, war nur eine logische Folge.
Jene, die nunmehr nach der Neutralität schreien und gleichzeitig die fünfzigjährige Mitgliedschaft Österreichs bei den Vereinten Nationen feiern, müssen sich daher schon leichte Schizophrenie nachsagen lassen.
Am 19. Juni 1992 kam es zur Erklärung der „Petersberger Aufgaben“ des Ministerrates der Westeuropäischen Union (WEU), damals noch ohne Österreich; nämlich, die WEU als Verteidigungskomponente der EU und zum europäischen Pfeiler der NATO auszubauen. Die Erklärung sah vor, daß die WEU künftig nicht nur im Auftrag der UNO oder der KSZE Blauhelmeinsätze, sondern auch unter bestimmten Bedingungen friedenschaffende Kampfeinsätze durchführen kann. Dazu sollten auch europäische Truppen aufgestellt werden.
Spätestens jetzt mußte jedermann klar sein, daß ein Beitritt Österreichs zur Europäischen Union auch der Beitritt zu einem nicht nur wirtschaftlichen und politischen, sondern – in gewisser Weise – auch militärischen Bündnis war und damit die letzten Reste der Neutralität beseitigt würden. Die Volksabstimmung für den EU-Beitritt Österreichs fiel dennoch überraschend hoch aus, mit rund zwei Drittel der Stimmen für den Beitritt. Offenbar ging diese Volksabstimmung an so manchem unerkannt vorbei. Denn bis heute fordern manche kleinerformatigen Medien und lautformatigen Politiker noch immer eine Volksabstimmung über Österreichs Mitgliedschaft in der EU, oder über die Beibehaltung der Neutralität, ohne die Realitäten wahrzunehmen.
Der Vertrag über die Europäische Union sieht in seinem Artikel 17 deutlich vor, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU umfasse sämtliche Fragen, welche die Sicherheit der Union beträfen, wozu auch die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehöre, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte. Dabei sind neben friedenserhaltenden Aufgaben ausdrücklich auch Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen eingeschlossen. Der Vertrag von Nizza, die „Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ betreffend, ist integrierter Bestandteil der gemeinsamen Zusammenarbeit der Europäischen Union. Diese Verträge haben rechtlich Vorrang vor österreichischen Gesetzen, nicht weniger als die UN-Charta.
Der vom Nationalrat beschlossene Artikel 23f der Bundesverfassung bestätigt die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik entsprechend dem Artikel 17 des EU-Vertrages; auch die Bereitschaft Österreichs an wirtschaftlichen Sanktionen. Mit keinem Wort wird mehr die Neutralität erwähnt, die zu diesem Zeitpunkt in jeder Beziehung schon gefallen war. Schließlich empfahl der Sicherheitsrat der Republik Österreich (mit illustren Namen wie Andreas Khol, Josef Cap, Reinhard Bösch und Peter Pilz) am 1. Dezember 2004 der Bundesregierung unter anderem, dafür einzutreten, daß die Europäische Union aus eigenen Kräften in der Lage sein solle, Petersberg-Aufgaben zu besorgen.
Österreich genießt international einen guten Ruf; auch wenn dieser durch Nestbeschmutzer, Berufsquerulanten und politische Brandstifter manchmal beschädigt wird. Österreich ließ das Zeitalter der Neutralität bereits seit einem halben Jahrhundert zurück. Es tut gut daran, sich den Realitäten anzupassen und in der internationalen Gemeinschaft glaubwürdig und aktiv mitzuarbeiten, statt Vergangenem nachzujammern oder Illusionen nachzuhängen. Denn eines hätte Österreich nie aus eigenem geschafft: nämlich, die eigene Neutralität zu schützen und zu verteidigen, wie es am 26. Oktober 1955 vollmundig verkündet worden war. Dazu hätte es mehr bedurft, als die jahrzehntelange sträfliche Vernachlässigung der zivilen und militärischen Landesverteidigung. Seien wir froh, nicht neutral zu sein, sonst wären wir hilflos auf uns allein gestellt.

(Peter Ehrenreich, Nachrichtenmagazin xlarge.at)

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